"Der vom Bundesland Baden-Württemberg und dem Südwestrundfunk vergebene Peter-Huchel-Preis ist seit Jahren eine der begehrtesten Auszeichnungen für Lyrik. 2017
wurde die 1964 in Dunaújváros geborene, in Ungarn zweisprachig aufgewachsene und heute in Berlin und Budapest lebende Lyrikerin und Übersetzerin Orsolya Kalász für ihren Gedichtband Das Eine mit
dem Preis bedacht. Dieses schmale und gewiss nicht leicht zugängliche Werk taste sich, so begründete die Jury ihre Wahl, in einer »o enen, fragenden, dem Fremden sich aussetzenden Poetik« durch
»das Laby- rinth des Erkennens, Benennens und Verwandelns von Welt«. Die Begründung der Jury endet mit einem Satz, der für das Verständnis und die Deutung dieser Gedichte wichtig ist: »Ihre Verse
halten Zwiesprache mit dem Anderen im Resonanzraum einer vielstimmigen Dichtung und wollen in all ihrem Geheimnis wieder und wieder gelesen werden.« Der prinzipiell kommunikative Charakter von
Das Eine, die »Zwiesprache mit dem Ande- ren«, und auch der o enkundige »Resonanzraum einer vielstimmigen Dichtung«,
den viele Verse eröffnen, zeugen von der Besonderheit einer Autorin, die ihre Gedichte nach eigener Aussage mal in ungarischer und mal in deutscher Sprache schreibt. Die Zwei- oder eigentlich
Mehrsprachigkeit darf als fundamental für Orsolya Kalász und ihren Umgang mit Sprache angesehen werden, hierin Ilma Rakusa verwandt und noch mehr vielleicht Peter Waterhouse, Dagmara Kraus oder
Uljana Wolf. Kalász formuliert das in einem Gespräch mit Kathrin Schadt so: »Ich glaube, jede Zwei- oder Mehr- sprachigkeit hat ihre eigene Geschichte, natürlich geht es dabei um viel mehr als um
Sprachfertigkeiten. Wie verändert sich meine Wahrnehmung, wenn ich zum Beispiel in Berlin eine ›Trauerweide‹ betrachte und ›szomorúfűz‹ sage und den Baum weiter anschaue, oder umgekehrt in
Budapest vor einem ›tölgy‹ stehend ›Eiche‹ murmle? [...] Der Einfluss einer grammatischen Struktur auf mein Denken lässt sich im Sprachwechsel für einen Augenblick außer Kraft setzen. Andere
Wege, andere Zwänge werden geboten. Das macht was mit einem! Ungarisch und Deutsch sind nämlich zwei Systeme, die unterschiedlicher nicht sein könnten.«
Nicht von ungefähr erläutert Orsolya Kalász, die – nebenbei gesagt – ihre Übersetzungsarbeit prinzipiell als ein Variieren und nicht als ein Entsprechen versteht, das faszinierende Phänomen der
Zweisprachigkeit am Beispiel von Bäumen. Pappel, Blutbuche oder Linde tauchen in ihren verrätselten Gedich- ten auf, auch Gräser und Veilchen werden herbeigerufen, der See ebenfalls und natürlich
die Wolken. Starke Bilder und ungewöhnliche Motive finden sich allenthalben, auch und gerade aus dem Arsenal der Natur. Dennoch wird man kaum von »Naturgedichten« sprechen wollen. Was dann?
Träume und Wirklichkeiten und deren Verhältnis zueinander bilden ein Thema, die Liebe sowieso. Sind es »Liebesgedichte«? Mit einem Lied über die Liebe – besser: einem reflektierten Gedicht über
die fragile Möglichkeit der Liebe – beginnt der Band, und dieses beeindruckende Liebeslied scheint auf den ersten Blick einer erfahrungsgesättigten Melancholie dichterischen Ausdruck zu geben:
»Ich weiß keine gute Antwort auf die Frage, / warum man unerwidert lieben muss, / liebe aber den Gedanken, die Evolution verfeinere sich / indem sie darauf bestehe, / ›die Schauer des Entzückens‹
/ ungefragt auszulösen.« (S. 9) Eine mögliche Lesart des Buchtitels wird auch angeboten: »Ist es wahr, / dass wir immer nur an das Eine denken? // Ja, mag sein. // Auch wenn es sich selten / gut
und lang genug denken lässt.« (S. 11) Manchmal darf man ohne größere Umwege an Erotisches denken: »Alles, was du hart machst, / lasse ich flüssig werden.« (S. 35) Im Blick auf die Vielfalt der
hier ver- sammelten Texte aber scheut man sich denn doch, umstandslos von »Liebesgedichten« zu sprechen. Sind diese Poeme, in denen Fabelwesen wie Blaubart oder Melusine irrlichternd herumspuken,
in denen verzauberte Tiere und überhaupt allerlei Magisches den Ton angeben, als »Liebesgedichte« zu klassifizieren? Im engeren Sinn jedenfalls nicht, auch wenn es, meistens im Gestus des
Fragens, sehr oft um die Liebe geht – nein, eher um das Magma jenes Erlebens, das vor der traditionellen Überführung in die Eindeutigkeit der Liebeslyrik liegt. Doch die komplexen, raffiniert
gebauten Texte von Orsolya Kalász verweisen immer wieder auf andere, weitere Dimensionen.
Spätestens im längeren Gesang »An die Merlette« kommt etwas in der modernen Lyrik nicht ganz Seltenes ins Spiel, die Wappen- und Schilderkunde beziehungsweise Heraldik. Sie ist zum Beispiel für
das Verständnis der Gedichte von Gertrud Kolmar (1894–1943) wichtig, auf die Das Eine mehrfach anspielt – einen Text mit dem Titel »Alles ist seltsam in der Welt« darf man sogar als lyrische
Zwiesprache mit »Gertrud« lesen (S. 68f.). Orsolya Kalász beginnt ihre Anrufung des »Merlette« genannten Wappentiers so: »Du // ›csonka rigó / mutila merula / gestümmelte Amsel‹, / heraldisch
gestutztes Wesen, ›dich liebe ich‹.« (S. 14) Im Abschnitt »Himmel und Erde«, der mit den Zeilen »Schau mich an / und sag, / du bist mein Wappentier« anhebt (S. 20), ist auch von einem
»heraldischen Zirkus / unter der Haut« die Rede (S. 22). Die Belegstellen sind so zahlreich, dass der Kritiker Moritz Holler den gesamten Gedichtband als »Heraldik des Herzens« charakterisiert
hat.2 Heraldik? Ja, es geht in diesem Gedichtband um zwischenmenschliche Beziehungen, um Liebe, Vertrauen und Hinfälligkeit, um Staunen, Melancholie und Trauer – wobei die Siegel und die Stempel
der Heraldik den variantenreichen poetischen Annäherungen an Erfahrungen und Erlebnisse neue, zuvor unerhörte Assoziationsräume eröffnen. Wappen, Schilder, Marken – »›Pictura‹, wie man in der
Emblematik sagen würde« – symbolisieren prägnante, sichtbare Zugehörigkeiten, sie machen Komplexes durch Übertreiben deutlich, oft auch scheinbar eindeutig. Aber Vorsicht – solche »Pictura« sind
hochkomplexe Symbolzeichen, die ihrerseits wie- derum extrem deutungsbedürftig sind! In »Die große Kunst der Deutlichkeit« heißt es: »Hängen Sie Ihren Entwurf / des Wappens der Liebe / draußen an
einen Baum, / gehen Sie exakt so viele Schritte zurück, / als nötig sind, um Sehnsucht zu spüren, / und mit weit aufgeris- senen Augen / wenden Sie sich dort um.« (S. 73) Die Wappentiere der
Heraldik und die Fabelwesen des Traums, sogar »Astronauten, Argonauten, / oder Wilde ...« (S. 56) können auch Halt geben und Schutz gewähren. Jedenfalls in der Idee: »Und dann wäre da noch die
Idee, / dass die Wappenfiguren, / vererbbare Erscheinungen / der Realwelt, in der Heraldik, / beim nächsten Selbstentwurf / von Nutzen sein könnten.« (S. 52) Dieser Idee folgt Orsolya Kalász in
ihren ohne Reime und ohne fixe Rhythmus-Muster auskommenden, klang- und assoziations- reichen und dabei durchaus melodischen Poemen. Ernsthaft sind sie und verspielt zugleich, sprach(en)verliebt
eben. Falsche Töne sind nicht dabei, Anflüge von Pathos werden durch Lakonie eingehegt, in »Blinde-Kuh-Flashmob« zum Beispiel (S. 78): »Jetzt / schließen wir die Augen, / wir alle. / Dann greift
jeder / nach seinem toten Winkel / und legt ihn zu den ande- ren, / auf den vorherbestimmten / Platz.« Kompliziert ist das eigentlich nicht, auch wenn man vieles vielleicht mehrmals lesen muss,
um hinter charakteristische Verfahrensweisen dieser eminenten Lyrikerin zu kommen. Die Präsentation ihrer Texte wurde mit ansprechenden Bildern des Künstlers Frank J. Schäpel angerei- chert, und
dadurch gewinnen sie Luft und Raum – Denkluft und Spürraum, die dazu einladen, ins Gespräch mit einer beachtenswerten, zwischen den Kulturen und Sprachen beheimateten Dichterin zu
gelangen."